Achtsamkeit – kein Wunder-Ding, aber eine Einladung, dem Wunder zu begegnen

Achtsamkeit – kein Wunder-Ding, aber eine Einladung, dem Wunder zu begegnen

«Wenn wir wirklich lebendig sind, ist alles, was wir tun oder spüren, ein Wunder. Achtsamkeit zu üben bedeutet, zum Leben im gegenwärtigen Augenblick zurückzukehren.» von Thich Nhat Hanh

Wenn Menschen in meine Achtsamkeitskurse kommen, bringen sie oft eine bestimmte Vorstellung mit, was der Kurs bei ihnen bewirken soll: «Ich möchte mich besser konzentrieren können, besser schlafen, ruhiger und gelassener werden usw.» Jeder Bereich des Lebens scheint optimiert und verbessert werden zu müssen.

Und nicht nur unser Alltag ist verbesserungswürdig, nein, ganz oben auf der Liste stehen wir selbst. Ich bin mein eigenes Projekt. Ich muss an mir arbeiten, damit das Leben, damit ich endlich besser, entspannter und freudiger werde. Im Klartext bedeutet das, ich genüge nicht, so wie ich bin.

Achtsamkeit ist in den letzten Jahren so populär geworden, auch weil unzählige Artikel, Blogs Apps, Kurse und Anleitungen den Eindruck erzeugen, dass Achtsamkeit so etwas wie ein Werkzeugkoffer ist, in dem ich ein Werkzeug finde, mit dem ich an mir und meinem Leben herumschrauben kann. Ich muss nur das richtige Werkzeug auswählen und dann geht es mir besser. Will ich einen Nagel ausreissen, nehme ich die Zange; will ich einen Nagel einschlagen, benutze ich den Hammer. Achtsamkeit ist jedoch kein Wohlfühlwerkzeug. Achtsamkeit geht weit darüber hinaus, sie ist eine Haltung dem Leben gegenüber.

Wenn ich dem Leben mit Achtsamkeit begegne, gebe ich mir Raum, auf das Leben zu schauen, wie es ist. Nicht wie ich es gern hätte. Achtsamkeit kann mir helfen, dem, was ich sehe, dem wo ich gerade bin und wer ich gerade bin, zuzustimmen und damit in Frieden zu kommen.

Wie oft möchten wir etwas anderes sein als das, was wir sind, möchten wo anders sein, als wo wir gerade stehen. Dieses Anders-Sein-Wollen ist der Beginn des Leidens. In der buddhistischen Philosophie wird das Dukkha genannt. Dukkha umfasst alle Formen des Leidens, wie Stress, Qual, Krise, das Gefühl ungenügend, unzureichend zu sein usw. Unsere Reaktion auf das Leiden ist, dass wir es weghaben wollen. Doch je mehr ich mich gegen das Leiden wehre, umso mehr Dukkha, umso mehr Leiden entsteht.

Ich kann versuchen dem Leiden auszuweichen, mich abzulenken, z.B. mit Aktivitäten wie Sport oder Konsum. Das lässt mich mein Dukkha für einen Moment oder sogar eine ganze Weile vergessen. Aber ich werde es nicht los. Im Gegenteil es wächst im Verborgenen an. Früher oder später bahnt es sich wieder seinen Weg in mein Bewussstsein. Dann greife ich zu stärkeren Mittel wie Medikamente, Rauchen, Alkohol, noch intensiveren Sport, ausgiebigerem Konsum u.a. Und die Spirale geht weiter: Noch mehr Ablenkung, noch mehr Leiden. Bis ich vielleicht irgendwann keinen Ausweg mehr sehe.

Wie kann ich aus dieser Leidensspirale aussteigen? Indem ich bereit bin, meinem Leiden ins Antlitz zu schauen. Ich meinem Dukkha begegne und mich von ihm ganz erfassen lasse, von der Unzulänglichkeit, der Wut, der Unbeherrschtheit, der Scham, dem Hass, dem Unvermögen, der Trauer, dem Schmerz. Wenn ich ganz nüchtern auf diese Begegnung schaue, dann sehe ich, dass sich unser Erleben von Körperlichkeit, unsere Empfindungen, Wahrnehmungen, Geisteszustände und selbst unser Bewusstsein also unser ganzes physisches und geistiges Erleben ständig verändert. Oft so schnell, dass wir den Wechsel gar nicht bemerken. All das was ich jetzt erlebe ist im nächsten Moment nicht mehr so. Selbst mein Leiden verändert sich ständig.

Eine achtsame Haltung erlaubt uns diese unglaubliche Aussage ganz zu uns nehmen. Das ist ein fliessender Prozess, ein Hineinwachsen in die Erkenntnis, dass ich wichtig und gleichzeitig unwichtig bin. Das mein Leben richtig ist, so wie es ist. Das ich nichts tun, nichts verändern, nichts optimieren muss.

Wenn ich meinem Leben mit Achtsamkeit begegne, konfrontiert sie mich mit voller Wucht mit dem was ich erlebe, was ich fühle, was ich denke und mit meiner ganzen Lebendigkeit. Sie lädt mich ein, da zu bleiben. An diesem Ort, in diesem Moment. Jetzt.

Diese Erfahrung geschieht aus dem Leben heraus, ist jenseits von unseren Vorstellungen, Konzepten und Gedanken, sie führt uns in innere Freiheit, Klarheit und Bewusstheit, direkt in das Wunder des Lebens.

Achtsamkeit – kein Wunder-Ding, aber eine Einladung, dem Wunder zu begegnen
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